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Carpe diem et Memento mori

„Schon wieder so ein beschissener Tag im Büro“, denkt sich James. Seit Tagen hat er ein mulmiges Gefühl im Magen. Doch er muss da durch. Schon sein Vater war Börsenhändler und nun hat James nach jahrelangem harten Arbeiten und Schleimen bei den „Geldsäcken“ die Möglichkeit bekommen, für die Londoner Exchange Group zu arbeiten. Während er sich in seinem kleinen Büro umschaut, wird ihm bewusst, dass er es doch ganz gut hat. Er hat eigene und vor allem reiche Kunden, eine kleine Familie und meistens gestresste, aber im Endeffekt ganz nette Kollegen. Doch plötzlich hört er seine Kollegen fluchen. Andere fangen an zu schreien: „Es ist alles zusammengestürzt!“. Er bildet sich ein, jemanden weinen zu hören. Die Telefone fangen alle an zu klingeln, doch keiner möchte so richtig rangehen. Er schaut sich um und sieht all die verzweifelten Gesichter, die auf ihren Computerbildschirm starren. Er selbst ist wie in Trance. „War´s das jetzt etwa? Die ganze harte Arbeit umsonst? Was soll nun aus mir werden?“, fragt er sich. Doch er kennt bereits die Antwort. Das ist das Ende. Die allgemein gefürchtete Finanzkrise hat soeben ihren Höhepunkt erreicht.

 

„Frühling der Barbaren“ erzählt eindrucksvoll von den Absurditäten der Finanzkrise, die damit verbundene Verzweiflung und wie schnell das dünne Häutchen über dem Vulkan reißen kann. Das Werk ist eine im Jahre 2013 erschienene Novelle des deutsch-schweizerischen Schriftstellers, Jonas Lüscher. Sie setzt sich aus einer Rahmen- und Binnenhandlung zusammen. Das Werk beginnt mit der Rahmenhandlung, in der ein Ich-Erzähler den Hauptprotagonisten Preising vorstellt. Dieser, der mittleren Alters ist, befindet sich mit seinem Mitpatienten auf einem Spaziergang im Garten einer psychiatrischen Anstalt. In der anschließenden Binnenhandlung schildert die Hauptfigur ihre vergangenen Erlebnisse in Tunesien. Preising, der ein Schweizer Fabrikerbe ist, hatte sich einen für ihn in Frage kommenden Zulieferbetrieb ansehen wollen. Während seiner Reise lässt er sich in einem Luxusressort in der Oase Tschub nieder. Bereits zu Beginn seines Aufenthalts lernt er einige britische Charaktere kennen, deren eindrucksvoll hoher gesellschaftlicher Status ihm sofort auffällt. Des Weiteren zeichnen sie sich durch Sportlichkeit und hervorragend bezahlte Jobs aus. Unter folgenden Charakteren befinden sich unter anderem britische Geschäftsmänner, die Hotelchefin Saida und die Familie Greyling, von denen er zur Hochzeit ihres Sohnes eingeladen wird. Jedoch wendet sich das Blatt in jener Hochzeitsnacht. Großbritannien erklärt völlig überraschend den Staatsbankrott. Zahlreiche englische Hochzeitsgäste, zu denen Investmentbanker und Devisenhändler gehören, können aufgrund von Kreditkartensperrungen ihre Hotelrechnungen nicht mehr bezahlen. Aus den steinreichen „Masters of the Universe“ bildet sich eine Gruppe verarmter Egomanen und die Party ist vorbei. Das Gemetzel beginnt. Touristen, die wegen ihrer hohen sozialen Stellung auf das Hotelpersonal herabgeschaut und es herumkommandiert haben, realisieren ihren Ruin in dieser Nacht. Verzweifelt und erschüttert, beginnen sie sich zu unberechenbaren barbarischen Horden zu entwickeln, die ein Kamel, dessen Magen sie mit einer Hündin und dessen Welpen gefüllt haben, versuchen zu verspeisen. Festzustellen ist, dass die zunächst reichen und arroganten Gäste innerhalb weniger Stunden ihren guten Status verloren und sich unzivilisiert verhalten. Mit diesem Akt lässt Lüscher an das Zitat „Carpe diem et Memento mori“ („nutze den Tag und bedenke deines Todes“), aus dem Barockzeitalter denken, das thematisiert, dass alles vergänglich ist; vor allem Geld, Status und Charakter.

 

Die Novelle zeigt sehr lebhaft die Weltwirtschaftskrise und die damit verbundenen Niedergänge an der Börse im Jahre 2008, sowie auch die Vergänglichkeit von allem und menschlichen Makel, wenn man alles verloren hat. Mit menschlichem Makel lassen sich die beinah animalischen Triebe der Touristen bezeichnen, nachdem sie vollkommen pleite sind und vor dem Abgrund stehen. Diese Thematiken hat Lüscher durchaus lebhaft in seinem Werk konstruiert. Anhand zahlreicher stilistischer Mittel, die sich an den Beispielen wie „(…)Even a different planet. Planet der Affen. Er fand sie affig, die jungen Leute(…)“ (S.34); „(…), damit der Strom seiner Worte seinen vorgedachten Weg gehen konnte.“ (S.7) veranschaulichen lassen, ermöglichen das intensive Hineinversetzen und Mitfühlen in seine Novelle. Allerdings lässt sich sein Werk trotz seines gesellschaftlich relevanten Wertes nicht einfach lesen. Häufig aufzufinden sind lange Sätze, wie beispielsweise zu Beginn der Novelle oder „Pippa, die in einem ärmellosen Leinenkleid, das geschickt die Farbe ihrer Augen aufgriff und einen kräftigen Kontrast zu ihren ergrauten Haaren bildete, bezaubernd aussah, stellte mich den Ibbotsons vor, ein reizendes Ehepaar, mit denen ich mich im Schatten eines großen Schirms ,etwas abseits“... (S. 76) Andererseits bedient sich Lüscher an einem durchaus eloquenten Vokabular, um Beschreibungen ihre gewisse Würze zu verleihen: „Junge Leute in ihren späten Zwanzigern und frühen Dreißigern. Laut und selbstsicher. Schlank und durchtrainiert. Die Männer trugen sandfarbene Chinos, Polohemden und Mokassins, die Frauen Tanktops und enge Shorts, aus denen braun gebrannte, seidige Beine ragten. Manikürte zarte Füße steckten in Flipflops. Wer sich ins Wasser wagte, trug eine jener Badehosen, wie man sie von Fotos kannte, die den jungen JFK am Strand von..“(S.33). Solch ein Ausschnitt verschafft dem Leser eine intensivere Vorstellung über die Handlung und lässt die Novelle in einem neuen, strahlenden und abenteuerlichen Glanz erstrahlen. Erwähnenswert ist jedoch, dass die Rahmenhandlung nicht immer schlüssig ist. Beispielsweise wird nicht erwähnt, wer der Mitpatient in der Psychiatrie ist und weshalb Preising sich dort aufhält. Demzufolge kann dem Leser die Frage aufkommen, ob die Erlebnisse in Tunesien wirklich stattgefunden haben, oder einige Geschehnisse womöglich ausgedacht sind.

 

Für mich ist das Buch den Kauf wert, da Lüscher den Leser aus der Realität entführen konnte, indem er die menschlichen Triebe, die Vergänglichkeit und das Verhalten der Menschen während der Finanzkrise niedergeschrieben hat. Letztendes ist jedoch das Beeindruckende und Interessante an diesem Buch, wie der Autor in nur 125 Seiten eine gesamtgesellschaftliche Betrachtung über die Themen der heutigen Welt dargestellt hat. Somit hat mich dieses Werk für einige Zeit nicht nur aus der Realität entführt; es hat mich auch zu weiterem Nachdenken gebracht. Deshalb konnte ich mich gut mit dem Buch anfreunden und genau das macht für mich einen guten Tex aus: Es erweitert meinen Horizont und verändert meine Sichtweise über bestimmte Themengebiete.

 

von Maral Fazlola

 

 

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